Am Weihnachtsmorgen
Christtag früh. Es ist noch Nacht, lieber Kestner, ich bin aufgestanden, um bei
Lichte morgens wieder zu schreiben, das mir angenehme Erinnerungen voriger
Zeiten zurückruft; ich habe mir Coffee machen lassen, den Festtag zu ehren, und
will euch schreiben, bis es Tag ist. Der Türmer hat sein Lied schon geblasen,
ich wachte darüber auf. Gelobet seist du, Jesus Christ! Ich hab diese Zeit des
Jahrs gar lieb, die Lieder, die man singt, und die Kälte, die eingefallen ist,
macht mich vollends vergnügt. ich habe gestern einen herrlichen Tag gehabt, ich
fürchtete für den heutigen, aber der ist auch gut begonnen, und da ist mir's
fürs Enden nicht angst.
Der Türmer hat sich wieder zu mir gekehrt; der Nordwind bringt mir seine
Melodie, als blies er vor meinem Fenster. Gestern, lieber Kestner, war ich mit
einigen guten Jungens auf dem Lande; unsre Lustbarkeit war sehr laut und
Geschrei und Gelächter von Anfang zu ende. Das taugt sonst nichts für de
kommende Stunde. Doch was können die heiligen Götter nicht wenden, wenn's ihnen
beliebt; sie gaben mir einen frohen Abend, ich hatte keinen Wein getrunken, mein
Aug war ganz unbefangen über die Natur. Ein schöner Abend, als wir zurückgingen;
es ward Nacht. Nun muß ich Dir sagen, das ist immer eine Sympathie für meine
Seele, wenn die Sonne lang hinunter ist und die Nacht von Morgen heraus nach
Nord und Süd um sich gegriffen hat, und nur noch ein dämmernder Kreis von Abend
herausleuchtet. Seht, Kestner, wo das Land flach ist, ist's das herrlichste
Schauspiel, ich habe jünger und wärmer stundenlang so ihr zugesehn hinabdämmern
auf meinen Wanderungen. Auf der Brücke hielt ich still. Die düstre Stadt zu
beiden Seiten, der stilleuchtende Horizont, der Widerschein im Fluß machte einen
köstlichen Eindruck in meine Seele, den ich mit beiden Armen umfaßte. Ich lief
zu den Gerocks, ließ mir Bleistift geben und Papier und zeichnete zu meiner
großen Freude das ganze Bild so dämmernd warm, als es in meiner Seele stand. Sie
hatten alle Freude mit mir darüber, empfanden alles, was ich gemacht hatte, und
da war ich's erst gewiß, ich bot ihnen an, drum zu würfeln, sie schlugen's aus
und wollen, ich soll's Mercken schicken. Nun hängt's hier an meiner Wand und
freut mich heute wie gestern. Wir hatten einen schönen Abend zusammen, wie
Leute, denen das Glück ein großes Geschenk gemacht hat, und ich schlief ein, den
Heiligen im Himmel dankend, daß sie uns Kinderfreude zum Christ bescheren
wollen.
Als ich über den Markt ging und die vielen Lichter und Spielsachen sah, dacht
ich an euch und meine Bubens, wie ihr ihnen kommen würdet, diesen Augenblick ein
himmlischer Bote mit dem blauen Evangelio, und wie aufgerollt sie das Buch
erbauen werde. Hätt ich bei euch sein können, ich hätte wollen so ein Fest
Wachsstöcke illuminieren, daß es in den kleinen Köpfen ein Widerschein der
Herrlichkeit des Himmels geglänzt hätte. Die Torschließer kommen vom
Bürgermeister und rasseln mit den Schlüsseln. Das erste Grau des Tags kommt mir
über des Nachbarn Haus, und die Glocken läuten eine christliche Gemeinde
zusammen. Wohl, ich bin erbaut hier oben auf meiner Stube, die ich lang nicht so
lieb hatte als jetzt.
Johann Wolfgang von Goethe an Johann Christian Kestner
Frankfurt, den 25. Dezember 1772