Das Weihnachtsfest
Aus Mathilde
Nun war Weihnachten gekommen. Nun waren allerhand Verkaufsbuden in
der Stadt am Markt aufgeschlagen, woran auch Mathilde neugierig und
staunend stand. Nun ließ sie nicht locker abends, wenn sie aus der
Fabrik entlassen waren, Saleck am Arme festzuhalten, bis er mit ihr
durch die Straßen ging, die wie ein Fest-Haus erleuchtet waren, und
im Schneeflockenfall selbst Strahlen und Glanz warfen. Nun stand sie
und hatte großes, kindliches Staunen in ihren hellen Augen, wenn sie
die blitzenden Kleinodien unten im Schaufenster des Juweliers
anstarrte, oder vor den zarten Schleierroben stand, die der
Konfektionär über Stöcke gezogen und in voller Figur ins
Schaufenster gestellt hatte, von allen Seiten beleuchtet und
glitzernd wie mit Tau besät. Sie lachte und freute sich, weil ihr
auch die Spinnennetze einfielen, die in freier Wiese und am
Waldrande gelegen - und "noch tausendmal schöner waren", sagte sie.
Und dann standen sie auch vor dem billigen Laden, und Saleck
horchte, ob sich Mathilde nicht irgendwie verraten wollte. Denn er
war ganz nur sie in allem. Und er wollte sie jetzt aushorchen, um
ihr daheim im Stübel ein Tischchen zu decken.
"Hahaha, 'n Sonnenschirm wie den" - es war tiefer Winter. Wie
Mathilde grade auf den Sonnenschirm kam, begriff er nicht. Es mochte
ihr dünken, daß es besonders wertvolle Leute wären, die Zeit hatten,
die Sonne abzuhalten, daß sie nicht die Haut zu sehr brenne. Sie
dachte wohl auch an den feinen Wagen des Direktors, in dem junge
Fräuleins in losen, heiteren Gewändern und mit seidenen, bunten
Spitzenschirmen zurückgelehnt aus dem Parktor ausgefahren waren.
Einen Sonnenschirm schien sie zu wollen, und Saleck war heimlich
glücklich, daß er es wußte. Er nahm sich extra eine Freistunde vom
Portier und kaufte ihn heimlich und ließ ihn dann in sein Stübel
schicken. Ganz selbstbewußt sagte er: "Wenn ich noch nicht daheim
bin, soll ihn die Wirtin in Empfang nehmen." So ging es einige Male,
wenn sie nun ihren Feierabend unter den Schaufensterschimmern in der
Stadt umgingen, Schritt um Schritt in der Menge, gar nicht aus dem
Staunen kommend, da und dort auch einen kindlichen Freudenruf
ausstoßend.
Und heut war der Freitag - vor dem Feste -, der letzte Tag, denn auf
Freitag fiel der heilige Abend. Die Fabrikherren hatten allen einen
halben Tag Arbeit geschenkt und hatten schon um Mittag Schluß
gemacht. Alles strömte heute aus den Toren heraus mit einem ganz
anderen Gesichte. Mein Gott - wie ein heiteres Gefühl doch soviel
Glück und Leuchten in die Augen und Wangen der Menschen bringen
kann. Man sah fast gar keine Sorge mehr, gar keine Rohheit in jungen
Gesichtern, die sonst frech und höhnisch miteinander sich trafen und
mit gemeinen Worten nach einander warfen; gar kein Scheelsehen, wenn
jetzt Mathilde froh und frei herbeischritt, und keinen Spottblick
auf den Huckigen, der neben ihr ging, fast mit kürzeren Schritten.
Gar nichts merkte man, daß die Arbeit eintönig und ermüdend gewesen,
aus der sie kamen, als wenn alle eingeladen wären, festlich zu sein
- und Freund und Bruder wären -, und nichts sich befehdete und
beleidigte in ihren Seelen. Selbst der Portier gab allen einen
freundlichen Gruß. Die Werkmeister standen schmunzelnd noch im Hof
und reichten gar alten Arbeitern die Zigarren zum Anzünden und
riefen sich Glücksworte zu, daß das Fest sollte ein Freudenfest
sein. - Und der Herr kam auch und konnte nicht genug den Hut lüften
vor jedermann, der vorbeischritt, und wie der Portier ihm zusprang,
tat er es auch, als wenn er sagen wollte: "Oh, wie gerne - wie schön
ist es" - und hatte ein freundliches Lachen im Gesicht, das jener
ebenso erwiderte. Es war wirklich wie Weihnachten.
Mathilde war schon am Mittag heimgekommen und hatte Saleck
ausdrücklich gesagt, daß er erst gegen Abend kommen dürfte. Sie
wollte sich einmal gründlich reinigen. Sich und ihre Sachen ins
Reine bringen, wenn nun Feiertage kämen. Und auch das Stübel
reinigen, daß sie dann abends bei dem brodelnden Topfe sitzen
könnten, und die gewaschene Ofenbank und der weiße Tisch, alles um
sie auch reden sollte: heut ist ein Fest. An weiteres hatte sie
nicht gedacht. Daß dann Saleck kommen und ihr alles mögliche bringen
würde, "oh, nee, mit keener Silbe!" - Zu wünschen war sie wohl kaum
gewöhnt. Wenn sie ein Erstaunen hatte laut werden lassen, war es
noch lange kein Wunsch gewesen - gar noch einer, der sich erfüllen
sollte. Sie lachte ganz aus dem Grunde im Wesen, wie sie auch aus
dem Wesensgrunde weinen konnte. Es war fast ein Leiden ihr Lachen,
wie sie Saleck einen Augenblick, ja fast schließlich einen ganz
unaushaltbaren Augenblick hinausgeschickt, um ihr Tischchen
aufzubauen, worum er Reiser gelegt, und sie dann erstaunt eintrat -:
als wenn sie einen Augenblick in ein Paradies hineinsähe, wo alles
zu liegen schien, was ihr Herz begehren könnte - ein feiner Schirm
sogar, ein Schirm und ein paar ganz feine Schlafschuhe, bunt
innerlich und weich, "für Füßchen", sagte sie ein über das andere
Mal ganz ernst. - Und sie lachte, wie sie es anschaute, ohne es zu
berühren, ganz erschrocken, fast so krampfhaft auf einmal, daß es
ihr wie ein Bleichgewordensein plötzlich einen Strom von Tränen
hervorpreßte, solche Wundertränen, solche Freudentränen. Oh, sie
liebte Saleck - sie liebte ihn. Solche Tränen waren ihr nie aus den
Augen gesprungen. Und sie stand und starrte und umarmte ihn leise,
fast wußte er nicht mehr, ob es im Leide war. Und sie trocknete sich
die Tränen schnell und ging weg an den Herd und wagte nichts zu
nehmen - bis ihre Bewegung langsam schwand. Dann erst sch alt sie
ihn leise und war zärtlich und sah alles nacheinander an und begriff
noch immer wieder nicht, daß jemand ihr das brachte.
Und wie sie so stumm voreinander saßen, im Glück, kam Frau Weber,
reinlich und sorglich gekleidet, und fragte, ob sie nicht
hinüberkommen möchten, beide - denn Vater Weber hätte es gern, sie
wären im Leben fromm gewesen und wollten heute mit den Jungen
Weihnacht feiern. Da erhoben sie sich, so andächtig und feierlich
wie nie im Leben. Es war fast ein Zittern in ihrer Brust, daß
Mathilde sich hinter Saleck drückte und nicht recht atmen konnte,
wie sie eintraten - wo der Alte - ein mächtiges graues Haupt noch
voll von Haaren und einem grauen Kranz voll straffer Borsten um
Wangen und Kehle, sonst runzlich - aber in seinen Augen auch jene
Feierfreude, die in allen rätselhaft durchs ganze Land glänzte - wo
der alte Mann, der sich nicht mehr erheben konnte, ihnen
entgegenlachte, sie einzuladen.
"Kommen Sie", sagte er. Mathilde trat ganz schüchtern ein - und
Saleck sagte nur steif: "Schön guten Abend - stören wir nicht?"
"Oh", sagte der Alte lachend - "ich bin fast fünfundachtzig, aber es
ist ja Weihnachten - es ist ja heiliger Abend."
Und Frau Weber rückte dem Alten die Lampe nahe vors Gesicht, der
gleich ein großes Glas vors Auge genommen und ernst ins Bibelbuch
hineingesehen - so daß Saleck und Mathilde auch ohne weitere Worte
begriffen hatten, worum es sich handelte; und während sie zögernd
Platz genommen, und Frau Weber einen kleinen Lichterbaum entzündete,
der auf dem Schube zu strahlen begann, klangen des alten Weber Worte
laut und mit zitternder Freude:
"Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot vom Kaiser Augustus
ausging, daß alle Wett geschätzet würde. Und diese Schätzung war die
allererste, und geschah zu der Zeit, Cyrenius Landpfleger in Syrien
war. Und Jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher
in seiner Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der
Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt
Bethlehem, darum, daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war,
auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seiner Verlobten. Die war
schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie gebären
sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn, und wickelte ihn in
Windeln, und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen
Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf
dem Felde bei den Hürden und hielten ihre Nachtwachen bei ihrer
Heerde. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit
des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr. Und der
Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige
euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird; denn euch ist
heute ein Heiland geboren, welches ist Christus der Herr in der
Stadt Davids. Und dies ist das Zeichen für euch, ihr werdet finden
ein Kind in Windeln gewickelt, und in einer Krippe liegend. Und
aIsobald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen,
die lobten Gott, und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede
auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen."
Mathilde bebte. Sie wußte gar nicht, daß sie jemals diese Geschichte
gehört hatte - solch ein Wunderbares klang eindringlich darin, solch
eine Kraft lag in den Gesichtern, wie da die Hirten schlafen im
weiten, einsamen Felde unter ihrer schlafenden Herde. Und aus der
Nacht und dem Dunkel ein einziger Strahl herniederbricht zu den
wenigen Wächtern, und ein Engel durch die Wolken licht
herniedersteigt, der ihnen, den armen Hirten, verkündend sagt:
"Fürchtet euch nicht. Ich verkündige euch große Freude." Und
Mathilde war es, als ob sie alles um sich vergessen hätte, und ihre
Seele befreit würde von aller Furcht. Eine solche Hoheit umfloß sie
aus jenen zitternden Freudenworten, die im Raume klangen, wo nur
Frau Weber mit gefalteten Händen saß, wie mit weiten Augen in Licht
sehend, und Saleck saß, der jede Silbe hastig von des alten
mächtigen Tischlers Lippen sog -, der tief und voll zu reden
fortfuhr. Er hatte jetzt die Bibel beiseite geschoben und begann,
freie Worte zu machen, die klangen, als wenn sie von weit herkämen
und nicht allein aus seinem Munde und Herzen, aus Tausenden und
Millionen - durch alle Zeiten der Menschheit hindurch - und er sagte
- immer noch, als wenn ein Funkeln Glückes und Staunens und seliger
Dank aus seinen Augen und Mund empor ging, obwohl gar kein Lächeln
seine Züge umspielte: "Das ist das Wunder, daß Christus ein
Christkind ward. - Wie wundersam, daß Christus ein Kind ward, im
Stalle geboren, und ein Stern aus der Höhe darüber leuchtete. Die
Kindschaft Christi ist das wahre Wunder - und ewig auch daraus die
Verheißung, daß wir zu Kindern werden müssen, um zu Gott
zurückzukommen, daß ewig Gott zum Kinde wird. Alle Verheißung liegt
im Kinde. Die Anbetung des Kindes: welche Schrecken erfassen mich,
wenn ich an eine Familie denke, die in den Öden des Lebens
hoffnungslos und heimatlos einhergeht, gescheucht und verarmt, zur
Herberge in eine m Stalle, und die nun anbetend kniet vor einem
Kinde, über dem ein Stern aus der Höhe leuchtet. Es ist ein Fluch,
wenn wir hart werden, starr werden, und wenn wir nicht immer wieder
einmal werden wie die Kinder..." Und er wiederholte es, und alle
empfanden das Wunder, daß wir noch immer an der Krippe stehen, wo
ein armes Kind aus der Wiege blickt, die ewige Hoffnung. Und
Mathilde begriff es ganz, was sie niemals begriffen. Es
durchschauerte sie. Und Saleck dachte an Mathilde und sah, wie sie
dasaß, als wenn tausendmal der Himmel geöffnet wäre und Hoffnungen,
die sie nie gesehen, sich aufgetan. Ihr Herz war zum Springen. Sie
lauschte demütig, und ihr Herz war zum Springen; und sah den Alten
an und sog auch wie Saleck seine Worte vom Munde, - bis er schwieg -
und alle lange schwiegen. Und "Stille Nacht" erklang es aus den
verwelkten Lippen, worein auch wieder die zitternde, hohe Stimme der
Alten einfiel -, fromm und zufrieden, daß selbst Saleck ganz
erschüttert einzustimmen wagte, und Mathilde bebend sang, ohne noch
zu weinen - und dann beide sich demütig, wie vor einem Vater und
einer Mutter beugten und dankten, mit fast erstickten Worten.
Auch in Mathildes Träume klang es nach, daß sie im Traume so
inbrünstig weinte vor Staunen und Freude, bis sie von ihren Tränen
erwachte und - noch immer die Musik der himmlischen Heerscharen und
die Verkündigung an die armen, einsamen Hirten im Grunde - froh und
jubelnd ins Dunkle, Einsame emporsah. Denn da in der Tiefe auch des
Armen leben alle Verkündigungen.
Carl Hauptmann (1858-1921)