Einsam am Heiligen Abend
Jedesmal wenn Weihnachten kommt, muß ich an Herrn Sörensen denken.
Er war der erste Mensch in meinem Leben, der ein einsames
Weihnachtsfest feierte, und das habe ich nie vergessen können.Herr Sörensen war mein Lehrer in der ersten Klasse. Er war gut. Im
Winter bröselte er sein ganzes Frühstücksbrot für die hungrigen
Spatzen vor dem Fenster zusammen. Und wenn im Sommer die Schwalben
ihre Nester unter den Dachvorsprung klebten, zeigte er uns die
Vögel, wie sie mit hellen Schreien hin und her flogen. Aber seine
Augen blieben immer betrübt.
Im Städtchen sagten sie, Herr Sörensen sei ein wohlhabender Mann.
"Nicht wahr, Herr Sörensen hat Geld?" fragte ich einmal meine
Mutter. "Ja, man sagt's." - "Ja ... ich hab' ihn einmal weinen
sehen, in der Pause, als ich mein Butterbrot holen wollte ..."
"Herr Sörensen ist vielleicht so betrübt, weil er so allein ist",
sagte meine Mutter. "Hat er denn keine Geschwister?" fragte ich.
"Nein - er ist ganz allein auf der Welt..."
Als dann Weihnachten da war, sandte mich meine Mutter mit
Weihnachtsbäckereien zu Herrn Sörensen. Wie gut ich mich daran
erinnere. Unser Stubenmädchen ging mit, und wir trugen ein großes
Paket, mit rosa Band gebunden, wie die Mutter stets ihre
Weihnachtspäckchen schmückte.
Die Treppe von Herrn Sörensen war schneeweiß gefegt. Ich getraute
mich kaum einzutreten, so rein war der weiße Boden. Das
Stubenmädchen überbrachte die Grüße meiner Mutter. Ich sah mich um.
Ein schmaler hoher Spiegel war da, und rings um ihn, in schmalen
Rahmen, lauter schwarzgeschnittene Profile, wie ich sie nie vorher
gesehen hatte.
Herr Sörensen zog mich ins Zimmer hinein und fragte mich, ob ich
mich auf Weihnachten freue. Ich nickte. "Und wo wird Ihr
Weihnachtsbaum stehen, Herr Sörensen?" - "Ich? Ich habe keinen, ich
bleibe zu Hause."
Und da schlug mir etwas aufs Herz beim Gedanken an Weihnachten in
diesem "Zuhause". - In dieser Stube mit den schwarzen kleinen
Bildern, den schweigenden Büchern und dem alten Sofa, auf dem nie
ein Mensch saß - ich fühlte das Trostlose, das Verlassene in dieser
einsamen Stube, und ich schlug den Arm vors Gesicht und weinte.
Herr Sörensen zog mich auf seine Knie und drückte sein Gesicht an
meines. er sagte leise: "Du bist ein guter, kleiner Bub." Und ich
drückte mich noch fester an ihn und weinte herzzerbrechend.
Als wir heimkamen, erzählte das Stubenmädchen meiner Mutter, ich
hätte gebrüllt.
Aber ich schüttelte den Kopf und sagte: "Nein, ich habe nicht
gebrüllt. Ich habe geweint. Und weißt du, ich habe deshalb geweint,
weil nie jemand zu Herrn Sörensen kommt. Nicht einmal am Heiligen
Abend..."
Später, als wir in eine andere Stadt zogen, verschwand Herr Sörensen
aus meinem Leben. Ich hörte nie mehr etwas von ihm. Aber an jenem
Tag, als ich an seiner Schulter weinte, fühlte ich, ohne es zu
verstehen, zum ersten Male, daß es Menschen gibt, die einsam sind.
Und daß es besonders schwer ist, allein und einsam zu sein an
Weihnachten.
Herman Bang (1857-1912)